Der wandernde Jude, ein stürzender Engel, der flüchtende Jude mit der Thorarolle – immer wieder hat Marc Chagall (1887-1985) diese Motive in den 1930er- und 40er-Jahren gemalt. Die Doku zeigt Chagalls Bilder als Spiegel der Zeit. Chagalls Werk ist heute aktueller denn je, denn es erzählt viel über seinen Blick als jüdischer Künstler auf die Themen Flucht, Glauben und Exil.
Marc Chagall (1887–1985) gehört zu den berühmtesten Künstlern der Moderne. Wie kaum in einem anderen Werk der Zeit spiegelt sich bei ihm die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den prägenden Themen Flucht, Exil, Antisemitismus und der Suche nach Identität – Themen, die heute aktueller erscheinen als je zuvor. Chagall vergleicht sich mit dem wurzellosen, ewig wandernden Juden, der anfangs in dem autobiografischen Motiv der fliegenden Figur erscheint: „Der Mann in der Luft in meinen Gemälden bin ich. (…) Früher war ich es nur zum Teil. Jetzt bin ich es ganz. Ich bin nirgendwo verankert. Ich gehöre nirgendwo hin.“ (Marc Chagall, 1950) Der Film spürt der persönlichen Symbolik des Künstlers nach und zeigt, wie sein Leben und Werk geprägt sind von Pogromen und Vertreibung, aber auch von Heimat, Glaube und visionärer Kraft.
Einen roten Faden in seinem Werk bildet die Beschäftigung mit dem Judentum und Christentum. Chagall war kein streng gläubiger Jude, aber er hat wie kein zweiter das jüdische Leben, die jüdische Kultur und ihre Traditionen dargestellt. Judentum und Christentum schließen sich bei Chagall nicht aus, sondern im Gegenteil, sie verbinden sich immer wieder miteinander, vor allem in seinen Werken der 30er- und 40er Jahre, aber auch danach. Als moderner Maler und Jude wurde Chagalls Leben und Werk maßgeblich durch die Kunstpolitik der Nationalsozialisten sowie durch den Holocaust geprägt. Chagall, der schon als Kind antisemitischen Pogromen in Weißrussland ausgesetzt war, reagierte auf die Machtergreifung der Nazis 1933 als einer der ersten europäischen Künstler auf die Bedrohung mit dem Gemälde „Einsamkeit“ (1933), das er später dem Tel Aviv Museum of Art schenkte. Das Bild vermittelt mit dem nachdenklich sitzenden Juden mit der Thorarolle das Gefühl der Isolation und Verfolgung. Im Anschluss schuf Chagall Arbeiten, die er später als „Vorahnungen der herannahenden Katastrophe“ bezeichnete, darunter neben „Einsamkeit“ die Werke „Der Engelssturz“ (1923/1933/1947), „Revolution“ (1937), „Die weiße Kreuzigung“ (1938) und „Der Märtyrer“ (1940).
1941 emigrierte Chagall mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten. Vom amerikanischen Publikum wurde er begeistert aufgenommen. Chagalls Leben im Exil war jedoch auch von Heimweh und Schicksalsschlägen geprägt. Die Nachricht von der Zerstörung seiner Heimatstadt Vitebsk durch die deutsche Wehrmacht und der plötzliche Tod seiner Frau Bella im Jahr 1944 hatten großen Einfluss auf sein Leben und seine Kunst. Seit dem Ende der 1930er Jahre taucht immer wieder der gekreuzigte Christus als jüdischer Märtyrer in seinen Bildern auf. Der jüdische Gebetsmantel Tallit bedeckt anstatt des Lendentuchs seinen Körper.
Der Film entband in Kooperation mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt, die vom 4. November 2022 bis 19. Februar 2023 die große Chagall-Ausstellung „Welt in Aufruhr“ zeigte. Im Zentrum stehen Chagalls Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, die seinen Blick auf die Themen Glauben und Identität, Liebe und Krieg, Hoffnung und Exil zeigen.
Der Film wurde am 13.11.2022 ausgestrahlt.
Buch & Regie: Maria Tappeiner
Kamera: Ion Casado, Frank Kranstedt, Dror Lebendiger
Schnitt: Birgit Köster
Produktion: SCHNITTSTELLE Film, Köln
Redaktion: Kathrin Brinkmann, ZDF/ARTE
Länge: 52 Minuten
ZDF/Arte Kulturdokumentation